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Achmed Omara Ali – Der Prinz vom Nil

Buch 8 x 11 cm, 84 Seiten, 9 Abbildungen, 12,50 EURO | Bestellinfo Buch

Die Erzählung beschreibt neben der Auseinandersetzung mit den Werten des Lebens, so wie sie sich ihm darstellen, auch den Eindruck, den Achmed von Touristen hat. Er beobachtet und lernt, zieht daraus Schlüsse die ihn ruhig und zufrieden machen. Am Ende ist er reicher als die, die auf den ersten Blick reich erscheinen. So wird aus ihm ein wirklicher Prinz. Eine gute Lektüre für Nil-Erstreisende, aber nicht nur ein Buch für Ägyptenfreunde.

AUS DEM INHALT:

Ich habe drei Reisen in dieses Land gebraucht um mich nicht mehr belästigt zu fühlen von den Ägyptern, die als Souvenirhändler und Anbieter von Dienstleistungen auf den Touristen oft beängstigend wirken. Aber, das ist mir schon bei der ersten Reise klar geworden, die Ägypter, denen der Tourist an den Kulturstätten und im Umkreis der Hotels begegnet, sind nicht die Ägypter.

Ägypten ist nicht nur ein Land mit faszinierenden Zeugnissen einer uralten Hochkultur, Ägypten hat wie alle nordafrikanischen Länder auch hinsichtlich seiner Menschen viel zu bieten. Aber um wirklichen Ägyptern zu begegnen muss man sich etwas fortbewegen von den Kulturstätten, nicht weit, oft nur ein paar hundert Meter. Der Reisende wird, wenn er sich für den Lebensraum der Ägypter von heute interessiert, Bilder und Lebensweisen vorfinden, wie sie im ältesten Buch der Welt beschrieben sind. Gerade die traditionellen Wurzeln sind es die in diesem Land etwa 80 Millionen Menschen davon leben lassen was das Wasser des Nils ermöglicht. (...)

Es ist für jedes Kind in Ägypten von entscheidender Bedeutung ob die Eltern arm sind oder ob sie ihm eine Schulausbildung finanzieren können. Achmeds Familie kann das nicht. So muss er schon früh mit aufs Feld hinaus, wie beinahe alle Kinder in seinem Dorf. Dort merkt er bald was es heißt ein Mann zu sein. Doch Achmed lernt schnell. Er ist fleißig und ehrgeizig. Gerade acht Jahre alt kennt er sich auch schon gut aus in seiner Dorfgemeinschaft und in der von zwei Nachbardörfern. Er kennt die Hierarchien, hat sich an ihnen gemessen, dabei seine eigene Bedeutung und Wertigkeit erfahren. Er weiß aber auch was man tun muss um weiterzukommen. Er hat schon viel vom Leben gelernt. Das Leben ist seine Schule. Immer öfter überschreitet er die Grenzen seiner Machtebene, bevor er sich traut den Kopf hinauszustrecken aus der dörflichen Rangordnung, die ihm arge Fesseln anlegt, die ihm zu klein und unbedeutend erscheint.

In der Familie ist er mit seinen mittlerweile zwölf Jahren schon als Mann integriert. Er weiß aber seit langem da gibt es noch etwas anderes, eine andere Welt, noch undurchschaubar für ihn, noch grau im Nebel, etwas beängstigend, die Welt außerhalb der Dorfgemeinschaft, außerhalb des ländlichen Lebensraums, die Welt der Asphaltstraßen, der Autos, Motorräder, der Lichter, der großen Häuser, der Fremden, die so ganz anders aussehen und reden, Menschen, die immer eine Fotokamera umhängen haben, hindurchschauen, irgendwo draufdrücken und dann stolz und zufrieden lächeln. Die Welt außerhalb seines Dorfs zieht ihn an.

Er lernt Autofahren mit einem Nachbau aus Bambusrohr und Draht. Wichtig ist das Lenkrad, es gibt die Richtung vor. Daran muss man drehen. Auf einem Fahrrad hat er schon Versuche und Fortschritte machen können. Auf einem Motorrad ist er mitgefahren. Das war sein bisher größtes Erlebnis. Fest angeklammert hat er sich an den älteren, der es besaß, der in der Stadt Luxor sein Geld verdient und schon ganz schön reich geworden ist. Nun hält er sich immer öfter dort auf wo die verkehren die in der Stadt arbeiten, die mit den Autos und Motorrädern fahren, an der großen Straßenkreuzung, am Bewässerungskanal. Er hört zu. Er lernt. Immer öfter kommt er erst im Dunkeln zur Familie zurück. Die Mutter schimpft, der Vater schweigt. (...)

Achmed geht jetzt regelmäßig dorthin wo in einem fort Geldscheine den Besitzer wechseln, wo die Männer beisammensitzen und erzählen, Tee trinken, Wasserpfeife rauchen, zu Gruppen laut gestikulierend sich mit traditionellen Brettspielen die Zeit vertreiben. Wo das Geld herkommt, wer es als Wertobjekt erfunden hat, wer es herstellt, das weiß er nicht. Das liegt immer noch im grauen Nebel seines Erfolgswegs. Aber er hat schon viel erreicht. Er wird akzeptiert, hier, wo das wirkliche Leben abläuft, hier, wo jeder Schuhe trägt und jeder immer Zigaretten hat. Hier, wo Autos und Motorräder selbstverständlich sind. Man kann sogar mitfahren, wenn man Geld hat. Und er hat Geld. Er verdient ja schon. (...)

Er glaubt nun, dass es die Fremden sein müssen, die das Geld machen, die mit den Kameras. Sie haben davon soviel in ihren Taschen und verteilen es großzügig überall. Sie bezahlen sogar das Doppelte für alles und lächeln noch dabei. Den Wert der Geldscheine kennt er schon genau. Immer wieder tauscht er zehn schmutzige kleine gegen einen großen um. Die großen hat er eng zusammengerollt in seiner Hosentasche, fest verschlossen mit einem Gummiband. Aber es gibt noch soviel was man besitzen kann. Er hat alles was das Leben schön macht schon gesehen. Er war sogar schon einmal auf der anderen Nilseite, in der Stadt Luxor. Er war auch in den Souks. Doch das Geschrei, die Enge, die hastenden Menschen haben ihm Angst gemacht. Er hat viele wundeschöne Sachen gesehen, die er kaufen kann, für die Papierscheine, die er in seinem Geheimfach hat. Ihm ist aber auch klar geworden wie viele Papierscheine gebraucht werden um all das kaufen zu können, was sein Herz begehrt. (...)

Etwas still und verwirrt ist er mit der großen Fähre wieder zurück gefahren, in die Welt die er mit seinen vierzehn Jahren überschauen kann. Nun weiß er aber es gibt viele Welten, beängstigend viele. Dort drüben, am anderen Nilufer, hinter der Stadt, da landen ja auch die großen Flugzeuge. Wo kommen die bloß her und wer hat die gemacht? Wieso können die überhaupt fliegen? Dass damit die Fremden kommen das weiß er. Mister heißen sie und Madam. Bonbons und Bakschisch verteilen sie, wenn sie gut gelaunt sind. Ihn zieht es nun dorthin, wo diese Menschen ankommen, mit der Nilfähre. Aber hier ist die Hölle los. Eine unübersichtliche, sehr beängstigende Welt für Achmed. Weggescheucht wird er von anderen Jungen, überall. Dabei sind die nicht älter als er. Doch Achmed hat kämpfen gelernt. Er spürt hier geht es um mehr als um Bonbons und Bakschisch. So schnell gibt er nicht auf. Was die anderen können kann er auch. Er versucht sich nützlich zu machen. Doch alles ist so neu, so anders. Er fühlt, dass das, was er bisher gelernt hat, ihm hier nicht hilft. So schaut er nur zu.

Er sitzt auf einem kleinen Erdhügel neben der Anlegestelle der großen Fahrzeugfähre. Hier lässt man ihn in Ruhe. Auf der anderen Nilseite, links und rechts vom großen Tempel, funkeln die Fassaden der Hotels, in denen die Fremden wohnen. Das Geklapper der bunt herausgeputzten, goldverzierten Pferdedroschken, das unendliche Gehupe der Taxis und das Gebrumme der großen weißen Schiffe, die drüben in Reihen am Ufer liegen, dringen zu ihm herüber. Große blaue Autobusse kommen mit der Fähre an dieses Ufer. Wohin fahren sie? Er sieht die Fremden durch die Fenster. Er beobachtet sie neugierig. Einige wenige lächeln ihn an und winken. Er lächelt verlegen zurück. All das gibt ihm Rätsel auf.

Aber hier an der Anlegestelle der Fähre gibt es auch einige denen es besser geht als den meisten. Es sind die Händler mit den Karren und Klappläden. Sie bieten Erfrischungen an, kleine Speisen, Obst, aber auch Zigaretten, Zeitungen, Sonnenbrillen, Uhren, Kämme, Sandalen, Hüte und vieles mehr. Die haben es geschafft. Sie sind wohl schon sehr reich. Sie sitzen nur da und warten bis jemand kommt und etwas kauft.

Es gibt auch Fremde, die alleine oder in Gruppen ohne Auto hier herüberkommen. Er hört von seinen Landsleuten Begriffe wie english, german, french... Er hört, wie seine Landsleute in anderen Sprachen mit ihnen sprechen. Er fühlt sich plötzlich ganz klein und dumm. Wieso können die Dinge die er nicht kann? Achmed sitzt da, merkt nicht wie es dunkel wird. Immer mehr Frauen und Männer kommen vom anderen Nilufer herüber. Sie hasten, eilen, als wenn sie an einem Wettlauf teilnähmen. Junge Burschen springen schon an Land, wenn die Fähre noch ein großes Stück davon entfernt ist. Andere springen schon hinauf. Immer wenn die Fähre angelegt hat ertönt ein großes Geschrei. Taxifahrer und Händler bieten ihre Dienste und Waren an. Junge Männer springen in Sammeltaxis, hinten in den offenen Aufbau, manchmal noch während der Fahrt. Geldscheine wechseln schnell hin und her. Achmed brummt der Kopf. Er fühlt sich überflüssig in dieser Welt, nicht dazu gehörend, dabei ist er nur eine Stunde Fußweg entfernt vom Lebensraum den er gut kennt. (...)

Er sitzt noch lange auf dem Bahndamm, der am Zuckerrohrfeld vor dem Haus seiner Familie entlangführt und schaut zum Sternenhimmel empor. Ihm wird von Tag zu Tag deutlicher wie groß die Welt ist und wie klein der Lebensraum der ihm in seinen Strukturen vertraut ist. Ob die Fremden mit den Flugzeugen von diesen Sternen da oben kommen? Vielleicht wird auf jedem dieser vielen Sterne eine andere Sprache gesprochen. Vielleicht hat aber auch jeder dieser Sterne einen eigenen Nil und eigene Zuckerrohrfelder. (...)

Der Nil ist die Lebensader Ägyptens, diesen Spruch hat er oft gehört. Wieso soll er nicht auch für ihn, den fleißigen Achmed, die Lebensader sein? Er ist gesund. Er fühlt sich jung und stark. Er beschließt am Nil sein Glück zu suchen. Die Sonne geht auf über dem Häusermeer von Luxor. Achmed sitzt kauend auf dem kleinen Hügel an der Anlegestelle der Fähre, ein Platz den ihm gestern niemand streitig gemacht hat. Schon lange vor Sonnenaufgang hat er das Erwachen der Stadt gehört und den Muezzin. Er ist nicht allein am Fährhafen. Einige die hier ihr Geld verdienen haben auch hier geschlafen, in Decken eingehüllt oder unter Kartons vergraben. Die beiden Fähren liegen noch ruhig da, jede an einem Ufer. Wie spät es ist weiß Achmed nicht. Er hat keine Uhr, kann auch keine lesen. Die Stunden des Tages waren in ihrer genauen Einteilung nie von Bedeutung für ihn.

Zwei große weiße Schiffe lösen sich am jenseitigen Ufer aus der Gemeinschaft der anderen. Sie drehen auf dem Strom und fahren an ihm vorbei in Richtung Assuan. Von Assuan im Süden des Landes hat Achmed schon gehört, durch den großen Staudamm der dort gebaut wurde, der seitdem dafür sorgt, dass für die Felder rechts und links des großen Stroms immer genügend Wasser vorhanden ist. Achmed empfindet die hell beleuchteten weißen Luxus-Hotelschiffe wie schwimmende Trauminseln. So stellt er sich das Paradies vor. Er stellt sich vor wie die schwimmenden Inseln innen aussehen. Es erscheint ihm, dem Fellachenjungen von der Westbank in Luxor, als allerhöchstes Lebensziel Steuermann eines großen Schiffes zu sein. Und er spürt plötzlich wie sich etwas in ihm verändert, wie sein Ehrgeiz aufflammt, das, was ihn bisher ausmachte. So beschließt er nun, während das Leben auf beiden Seiten des Nils erwacht, sich nicht einschüchtern zu lassen von Dingen die er nicht versteht. Er wird sie verstehen lernen. Schließlich hat er bisher erreicht was er erreichen wollte. Er möchte etwas tun. Doch alle Dienste sind vergeben. Er steht ziemlich ratlos am Ufer, unmittelbar neben der Anlegestelle.

Am späten Nachmittag kommen die Schüler aus der Stadt. Sie machen wieder ihre Mutproben, springen schon von größerer Entfernung an Land und manchmal sogar wieder aufs Boot. Nun ist Achmed nicht mehr zu halten. Das kann er auch. Er springt. Mit Erfolg. Immer wieder. Immer mutiger. Am Abend ist keiner mehr besser als er. Nur der Fährmann kann seinen Künsten nicht die ihnen gebührende Anerkennung abgewinnen. Er schimpft und versucht Achmed festzuhalten. Aber Achmed ist schneller oder mischt sich geschickt unter die Menschenmenge an Bord. Später lernt er dann zu springen wenn der Fährmann beschäftigt ist, in seinem Steuerhaus. Die anderen Jungs lernen Achmed nun kennen. Er spürt Wohlwollen und auch etwas Anerkennung in den Blicken, obwohl die meisten Schuhe tragen und er nicht.

In dieser Nacht schläft Achmed sehr gut. Es hat sich viel verändert. Achmed ist ein anderer geworden. Er glaubt seine Eltern und seine Geschwister müssten das merken, sie müssten ihm ansehen zu welch großen Leistungen er fähig ist und dass er noch viel erreichen wird, Dinge an die seine Familienmitglieder noch nicht einmal denken, weil sie sie gar nicht kennen. (...)

Tage, Wochen und Monate vergehen. Achmed macht sich nützlich, wo immer es möglich ist. Von den Touristen lernt er einige Worte in deren Sprache. Er lernt englisch, deutsch, französisch, italienisch und japanisch zu unterscheiden. Er hört nur einige Sätze und weiß woher die Fremden kommen. Wo diese Länder liegen, dass weiß er aber immer noch nicht. Abends, beim Nachhausegehen, stellt er sich den großen Stern über ihm als England vor, den daneben als Italien und den ganz großen hellen als Deutschland. Aus Deutschland kommen besonders viele. Beinahe so viele kommen aus Japan. Aber die Japaner sind wesentlich kleiner, scheinen von einem kleineren Stern zu kommen. (...)

Sein Geheimfach, die Hosentasche, reicht nicht mehr aus für seinen wachsenden Schatz. Obwohl er nun oft am Fährhafen isst und mit dem Sammeltaxi nach Hause fährt hat er schon einhundertfünfundsiebzig Pfund gespart. Den größten Teil davon hat er in einer Flasche an einem geheimen Ort vergraben. Manchmal trinkt er am Abend, bevor er sich zum Schlafen legt, noch ein Bier, ein Stella, bei Mhand dem Kaufmann, illegal natürlich, in der kleinen Hütte hinter dem Hof. (...)

Die Jahre vergehen ohne besondere Ereignisse. Achmed wird bald achtzehn. Dann muss er zum Militär. Er hat darüber sehr schlechte Dinge gehört, von denen, die dabei waren. Aber er hat durch den Kontakt mit den Touristen erfahren wie wichtig Bildung ist. Beim Militär kann er eine Schule besuchen. An einem Februarmorgen ist es dann soweit. Achmed nimmt Abschied von der Familie und vom Dorf. Schweren Herzens steigt er in den großen Militärlastwagen, auch weil er seit ein paar Wochen Fatima aus dem Nachbardorf gern sieht. Sie ist so wie er sich seine Frau vorstellt, aber leider sehr scheu. (...)

Mit den Gedanken an seine Karriere als Steuermann, er, Achmed, in weißer Uniform hinter einem riesigen Steuerrad, viel größer als das auf der Fähre, tröstet er sich auf der Fahrt zur Kaserne in Quena, einer Stadt auf der rechten Nilseite, nördlich von Luxor. (...)

Nach einem Jahr militärischer Ausbildung kommt Achmed nach Kairo. Dort besucht er die Militärschule. Er wollte nicht nach Kairo. Von den Bewohnern der riesigen Stadt hat er nichts Gutes gehört. So weit weg von zu Hause scheint ihm nun zerstört was ihn mit den Wurzeln seiner Kindheit und mit dem ihm vertrauten Lebensraum verband. (...) Den eigentlichen Militärdienst leistet er am Suezkanal. Dort muss er an militärischen Einrichtungen und für militärische Zwecke wichtigen Straßenkreuzungen Wache stehen. Auf der Fahrt entlang des Nils, hat Achmed viel gesehen von seinem Land, auch dass die Menschen im grünen Uferbereich überall in gleicher Form leben wie die Familien in seinem Dorf. (...)

Im August des folgenden Jahres ist es dann soweit. Achmed wird vom Militär entlassen. Er ist zweiundzwanzig Jahre alt. Mit dem Zug fährt er bis Luxor. Mit leuchtenden Augen steigt er aus. Sein Herz klopft arg. Den Bahnhof von Luxor hat er noch nie gesehen.

Achmed sieht anders aus als vor dreieinhalb Jahren. Nicht mehr wie ein Fellachenjunge. Schwere ausgediente hohe Militärschuhe an den Füßen, eine abgetragene graue Militärhose mit breitem Gürtel, ein buntes Hemd, eine Militärkappe mit Schirm auf dem Kopf, ein Bündel auf dem Rücken, mit dem wenigen was er besitzt, so stapft er durch die Straßen von Luxor. Das bunte Hemd ist sein ganzer Stolz. Master of study steht in großen blauen Buchstaben auf seinem Rücken. Ein Brief hat ihn in Assuan erreicht. Der Vater ist gestorben. Er hat lange an einer Krankheit gelitten. Der Bruder ist in der Ausbildung, bei der Touristenpolizei. Zwei Schwestern sind verheiratet und erwarten Kinder.

Es ist Nachmittag, die Straßen von Luxor sind erfüllt vom geschäftigen Treiben der Händler. Autos, Eselskarren, Kutschen, Mopeds, Fahrräder, viele hastende und lärmende Menschen bestimmen das Straßenbild. Verlockende Gerüche dringen aus dem Souk. Der Muezzin ruft zum Gebet. Achmed sieht auch Touristen, etwas verloren und scheu wirken sie, junge Frauen in kurzen Röcken oder engen Shorts, mit Schmuck behangene grell geschminkte ältere Frauen, Männer mit großen Schirmmützen und großen Kameras. Alte fensterlose Busse drängen sich schwankend durch das Verkehrsgewühl und große blaue vollbesetzte Touristenbusse. Niemand beachtet Achmed. Er spürt, er ist wieder ganz am Anfang, obwohl er nur wenige Kilometer von hier entfernt geboren ist. Alles wirkt fremd um ihn herum. Alles ängstigt ihn.

In strahlendem Himmelblau schimmert die von weißen Felukensegeln durchbrochene Wasserfläche. Mit Tränen in den Augen hat er den breiten Strom verlassen, vor dreieinhalb Jahren. Mit Tränen in den Augen geht er nun auf seine Lebensader zu. Den Lärm der hektischen Touristenstadt nimmt er nicht mehr war. Er achtet nicht auf die schimpfenden Fahrer der Autos und Motorräder, die ihm ausweichen oder vor ihm bremsen müssen. Er sieht nur seinen Nil und auf der anderen Seite sein Zuhause. Das Wüstengebirge hinter dem fruchtbaren grünen Bereich, in dem auch sein Dorf liegt, schimmert rotbraun, flimmert verschwommen zum Horizont ausfließend im Dunst des heißen Tages. Er achtet nur auf die ihm vertrauten Geräusche, die vom anderen Ufer sanft herüber wehen. Dort liegen die beiden Fähren, rechts die für Personen, links die größere für Fahrzeuge, die er gut kennt. Achmed ist wie betäubt. Er steht reglos da. Er kann es kaum fassen. Er hat es geschafft. Er ist zurückgekehrt zu dem, was ihm so viel bedeutet.

Er geht zur Anlegestelle. Dort stehen schon viele Männer, sitzen schon viele Frauen mit Kindern und großen Bündeln. Für Achmed ein lieb gewonnenes, wohltuendes Bild. Neugierige Augen treffen ihn. Die Frauen tuscheln, junge Mädchen in farbenfrohen Kleidern schauen scheu mit großen Augen, senken schnell den Blick. Sie kichern miteinander. Jetzt erst, wo die Schiffssirene die Ankunft ankündigt, registriert er, dass die Fähre schon mitten auf dem Fluss ist. Von Bord dringen heitere Geräusche herüber. Jugendliche musizieren, singen, tanzen. Der sich dem Ufer zuneigende breite Ausleger der Fähre kann die Ankommenden nicht fassen. Die Achmed umgebenden Schar der Wartenden macht nur widerwillig Platz.

Wie damals springen junge Burschen schon vor dem Anlegen herunter. Alles schiebt. Alles drängt. Kinder weinen, Frauen hüllen ängstlich Babys in Decken und drücken sie fest an sich. Die Wartenden drängen hinein, während die Ankommenden noch Probleme haben an Land zu kommen. Motorräder werden gestartet. Junge Männer fahren rücksichtslos durch die Menge. Fahrräder, Kisten, allerlei Gegenstände und Kinder werden an Bord getragten. Ein hagerer Mann schleppt ein riesiges mit Sand und Staub überzogenes Fernsehgerät auf dem Rücken. Achmed hilft ihm beim Einsteigen und beim Absetzen des Gerätes. Nun spürt er es deutlich. Es hat ihn wieder wie ein Blitz durchzuckt. Am Ufer noch fühlte er sich verloren und fremd. Doch nun, umgeben von vertrauten Bildern und Geräuschen, mitten auf dem Fluss, vom feinen Vibrieren des stählernen Schiffskörpers durchwoben, dem hart pochenden Motorgeräusch aus dem Bauch des alten Fährbootes ausgeliefert, weiß er wo er hingehört. (...)

Eine junge Frau herzt mit ihrem kleinen Söhnchen, noch ein Baby, doch so wie er einmal der Prinz. Die Schwester, vielleicht zwei Jahre älter, schmiegt sich an die Beine der Mutter. Sie schaut mit großen ängstlichen und zugleich neugierigen Augen zu den beiden Touristen auf, die vor ihr stehen. Die junge Mutter gibt dem mittlerweile ungeduldig weinenden Jungen die Brust. Eine starke, gesunde Frauenbrust. Der Kleine saugt gierig. Man hört ihn schmatzen. Nun deckt die Mutter ihr schwarzes Gewand über das hungrige Kind.

Die Touristin lächelt gerührt. Ihr Mann zückt ein wenig verlegen die Kamera. Er schaut kurz durch und es macht klick und schnell noch einmal klick. Er wirkt stolz und erleichtert. Die junge Mutter hat es wahrgenommen. Sie gestikuliert, verlangt Bakschisch. Der Mann errötet. Seiner Frau ist das peinlich. Sie fordert ihn auf etwas zu geben. Er tastet nach seinem Portemonnaie. Mit spitzen Fingern zieht er eine Pfundnote heraus. Seine Frau reicht dem kleinen Mädchen das Geld. Die dunklen Augen leuchten aufgeregt. Kleine schlanke Finger umschließen den Geldschein wie ein Schraubstock.

Die Mutter schimpft. Sie versucht, dem Mädchen das Geld abzunehmen. Doch die kleine weigert sich. Die Mutter wendet Gewalt an, setzt das Baby vor sich auf die Erde um beide Hände freizuhaben. Sie biegt die Finger des sich immer noch wehrenden Mädchens auf. Sie schimpft, das Mädchen windet sich und weint. Der Junge weint auch und macht dabei Pipi. Ein kleiner Bach ergießt sich auf den Boden der Fähre. Die beiden Touristen weichen verlegen, jedoch auch verständnisvoll lächelnd, zurück.

Die Mutter hat den mittlerweile total zerknitterten Geldschein in der Hand. Sie gibt dem Mädchen eins hinter die Ohren. Der Junge weint lauter. Er ballt die kleinen Fäuste. Die Mutter glättet den Geldschein sorgsam, wickelt ihn in das Ende ihres Kopftuches und schützt ihn durch einen Knoten. Ihre starken Arme greifen nach dem nun wild schreienden Prinz. Sie rückt etwas zur Seite, schüttelt die Nässe von ihrem Gewand, schimpft mit dem Baby und dem Mädchen. Ein dicker Kuss auf die feuchten Augen und auf die hungrigen Lippen, schon verschwindet er, der Pascha, unter ihrem Gewand. Man hört ihn wieder zufrieden schmatzen. Ruhe ist eingetreten. Auch die beiden Touristen sind erleichtert, man sieht es deutlich. (...)

Er betritt die Asphaltstraße, die zum Wüstengebirge führt. Mit festem Schritt, die Augen in die Ferne gerichtet, lässt er die wenigen Häuser am Nilufer hinter sich. Er nimmt nicht die Abkürzung durch die Felder, die er früher immer gegangen ist. Nein, er folgt der Asphaltstraße. Er will nicht abkürzen. Dafür war er zu lange weg von zu Hause. Nun, wo er dem Lebensraum seiner Kindheit so nahe ist, möchte er noch genießen, genießen was in ihm abläuft. Er hat auch ein wenig Angst vor möglichen Enttäuschungen, Angst vor den Veränderungen in seiner Familie. Wird er sich noch einfügen können? Wird man ihn überhaupt noch aufnehmen wollen, wo er doch so anders ist als alle, die hier leben? Passt er, Achmed Omara Ali, überhaupt noch hierher? Kann er hier noch leben und wovon? Aber wo soll er sonst hin? (...)

Ein alter Mann mit einem Esel biegt vom Feld her kommend auf seinen Weg ein. Achmed erinnert sich an ihn. Der Mann gehört zu seinem Dorf. Achmed strahlt, grüßt freundlich, als würde er einem alten Freund gegenübertreten. So empfindet er diese Begegnung auch. Doch der Mann nickt nur kurz, grüßt zurück und schon ist er mit dem Esel an ihm vorüber. Achmed steht am Straßenrand. Dunkle Gedanken kommen in ihm auf. Will man ihn nicht mehr aufnehmen, oder hat er sich auch äußerlich so verändert, dass man ihn nicht mehr erkennt?
 
Verwirrt geht er weiter, aber jetzt ganz langsam. Er bleibt stehen, schaut an sich herunter, die alten Militärschuhe, die graue abgetragene Hose, dazu das bunte Hemd. So sah der Achmed nicht aus, der vor mehr als drei Jahren das Dorf verließ. Ein Fremder kommt zurück, nicht Achmed, der Fellachenjunge, den alle kannten und mochten. Er reist an den Schnüren, die seinen Sack umschließen. Er kramt darin herum. Ganz unten, total zerknittert, da ist sie, seine Gallabiyya, das Gewand der Fellachen, das er getragen hat, als man ihn abholte. Er hält es zitternd in der Hand. Tränen rollen über seine Wangen, tropfen auf den braunen Stoff. Und während der runde Sonnenball über den Gräbern der Pharaonen versinkt reißt sich Achmed seine Militärmütze vom Kopf. In einem weiten Bogen fliegt sie ins Bohnenfeld. Mit zitternden Händen öffnet er die schrecklichen Schnürstiefel, schlüpft in seine Gallabiyya, die ihm so vertraut ist, kramt in dem großen Sack, fischt ein paar ausgetretene Gummisandalen heraus. Nun fühlt er sich besser. Er atmet schwer, aber seine Augen strahlen glücklich. Er wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und hat es plötzlich sehr eilig. (...)

Die Tage vergehen im Familien- und Freundeskreis, bis Achmed müde ist vom Erzählen. Wie geht sein Leben nun weiter? Irgendetwas Sinnvolles muss er schließlich tun. Auf den Feldern ist zurzeit wenig Arbeit. Dahin zieht es ihn auch nicht. Er möchte wissen was aus Fatima geworden ist. Bisher hat er nur gehört, dass man sie lange nicht gesehen hat. Es zieht ihn zum Nil, zur Fähre, seinem früheren Arbeitsplatz. Er weiß, er muss sich wieder alles neu erarbeiten, sich um neue Freundschaften bemühen.

Nun schreitet Achmed am breiten Bewässerungskanal entlang in Richtung Asphaltstraße und von dort zum Nilufer. Die ersten Touristenbusse und die ersten Touristen auf Fahrrädern kommen ihm entgegen. Er grüßt alle sehr freundlich. Doch kaum jemand grüßt zurück. Bilder kommen ihm vor Augen. Wie lange ist das her, zehn Jahre? Oder war das gestern, als er sich zum ersten Mal von seinem Dorf wegbewegte, über diese Straße, zum Nil? Ähnlich hat er sich damals gefühlt. Wieder ist es ihm zu eng geworden in seinem Dorf. Schon nach wenigen Tagen hat er gespürt er gehört da nicht hin. Er ist anders als die, die dort leben und damit zufrieden sind dort zu leben. Wieso eigentlich? Darüber denkt er seit Jahren nach. Was ist es was ihn dort so erdrückt, was ihn hinauszieht, dorthin wo viele Autos sind, Lärm und Menschen, wo die Fremden an Land gehen um die alten Kulturgüter seines Landes zu sehen? (...)

Da ist sie nun, die Welt die ihn anzieht. Heute sieht er alles klarer als bei seiner Ankunft vor einer Woche. Im Grunde hat sich wenig verändert. Die Zahl der Händler und Buden ist größer geworden. Die Fähre ist noch voller. Es gibt nun sogar zwei Restaurants an diesem Nilufer. Da ist noch etwas was Achmed wiedererkennt, den kleinen Hügel. Auf ihm hat er schon einmal Schutz gesucht. Und so kommt es, dass Achmed an diesem Sommervormittag, wie vor zehn Jahren, dort oben sitzt. Doch er ist größer geworden, älter, erfahrener. Er hat viel erlebt. Ist er aber auch klüger geworden? Im Moment empfindet Achmed das jedenfalls nicht. Er fühlt sich so hilflos und verlassen wie damals. Und weil er nichts Besseres weiß, macht er genau das was er damals auch gemacht hat, nämlich nichts. Er sitzt da, in Gedanken versunken und beobachtet. Dabei streifen seine Augen das jenseitige Ufer. (...)

Gegen Mittag geschieht etwas, was ihn jäh aus seinen Gedanken reißt. Der Fährmann hat Probleme mit dem Anlegen. Er läuft aufgeregt hin und her. Ein Seil, mit dem die Fähre vorn am Poller festgemacht wurde, ist gerissen. Und nun bemüht sich der Fährmann das große Schiff an Land zu halten. Mal steht er ratlos und Hilfe suchend am Ufer, mal am Steuerrad, wenn die Fähre abzutreiben droht. Mutige junge Männer sind schon an Land gesprungen. Die Fahrzeuge wippen mit laufendem Motor vor und zurück. Die Fahrer warten ungeduldig auf einen günstigen Zeitpunkt zum Verlassen der Fähre.

Achmed steht nun an der Anlegestelle. Er hat ein anderes Seil entdeckt. Von seinem Hügel aus hat er es zuvor am Ufer liegen gesehen. Damit springt er nun, in einem ihm günstig erscheinenden Augenblick, auf die immer wieder abtreibende Fähre. Er registriert verschwommen viele ängstliche aber auch anerkennende Blicke. Mit flinken Fingern windet er das Seil um den Poller am Bug des Schiffs. Mit dem anderen Ende in der Hand steht er nun bereit zum Sprung zurück an Land. Der Fährmann hat Achmeds Handeln registriert. Er bemüht sich die Fähre so dicht wie möglich an der Anlegestelle zu halten. Aber immer wieder treibt das Schiff, gerade dort wo Achmed steht und springen will, weit vom Ufer weg.

Viele Schaulustige haben sich eingefunden. Alle blicken mit Interesse auf Achmed. Springt er oder springt er nicht? Wenn er ins Wasser fällt kann er zwischen Fähre und Ufermauer zerquetscht werden. Achmed zögert. Kühl registriert er, dass die Entfernung noch zu groß ist. Alles in ihm läuft automatisch ab, ganz schnell, ohne dass es ihm bewusst wird. Nun treibt der hintere Teil des Schiffes schräg auf die Anlegestelle zu. Achmed drückt das Seil einem jungen Mann, der mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen neben ihm steht, in die Hand. Er windet sich katzengleich durch die Menge zum Heck des Fährschiffes. Mit großen Sprüngen erklimmt er die Treppe zum Oberdeck. Dort, so schnell können die Staunenden es kaum registrieren, steht er auf dem schmalen Bootsrand außerhalb des Geländers. (...)

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