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Lang und steinig der Weg

eBook, ca. 43 Seiten, 7,99 EURO

"Der König stirbt", jedenfalls im ersten Teil der Geschichte. Das sollte auch eigentlich der Titel sein. Aber den gibt es ja schon. Der König, von dem hier berichtet wird, stirbt nicht richtig. Er lebt, obwohl er stirbt. Das ist die Aussage dieser ins Unendliche angelegten Erzählung. Es geht um Verblühen und Erwachen, die Nahtstelle des Seins und um den langen steinigen Weg.

AUS DEM INHALT:

Der König stirbt!! Es klingt wie ein Schrei aus tausend Mündern. Der König stirbt! Der König stirbt! So hallt es in den Gassen. Der König stirbt. Der König stirbt. Die Worte eilen von Dorf zu Dorf, durch Felder und Wiesen, von Bergeshöh zu Bergeshöh, von Tal zu Tal. Der König stirbt. Der König stirbt. Das flüstern die Alten. Die Jungen erfasst's mit Grauen. Der König stirbt. Der König stirbt. So raunt es im Wald von Stamm zu Stamm. Vögel tragen die Nachricht über Grenzen hinweg. Der König stirbt. Der König stirbt.

Es ist Sonntag. Dunkel und kühl ist es im königlichen Gemach. Ausgesperrt ist das Licht des späten Herbsttages, ausgesperrt die Vogelstimmen. Ausgesperrt ist jeder Laut, welcher dem kranken König Olaf schaden könnte. In den Gängen des Schlosses huschen die Schatten der Bediensteten wie Geister von Wand zu Wand. Niemand wagt laut zu sprechen. Das einzig geduldete Geräusch ist das Stöhnen des kranken Königs. Er leidet sichtlich Höllenqualen, wirft sich ohne Unterlass hin und her, in seinem goldenen Bett. Die Klagelaute durchdringen Türen und Wände, setzen sich fort von Raum zu Raum. Niemand im Schloss kann ihnen entfliehen.

Die königlichen Pferde in den Ställen lassen die Köpfe hängen. Sie stehen reglos da, als seien sie nicht von dieser Welt. Aus den Zwingern der ansonsten immer lärmenden königlichen Hundeschar dringt heute kein Laut. Es ist, als sei die königliche Meute mit auf der Reise, die der kranke König angetreten hat.

Friethjof, der treue Kammerdiener und die Königin stehen mit sorgevoll geröteten Augen am königlichen Bett. „Majestät, Majestät", flüstert der treue Friethjof zum wiederholten Mal. „Majestät, so schauen Sie doch. Ihre liebe Gattin ist hier. Sie hat die ganze Nacht bei Ihnen zugebracht. Bitte sagen Sie uns, womit wir Ihnen helfen können. Sie müssen etwas zu sich nehmen. Seit mehr als einer Woche haben Sie keinen Bissen mehr gegessen. Wir machen uns große Sorgen. Majestät, Majestät ..."

Seit zwei Tagen und zwei Nächten sitzt der königliche Hofkoch über königliche Rezeptbücher gebeugt in der königlichen Bibliothek. Seltsame Namen und Formeln murmelt er vor sich hin. Er forscht nach der Wunderspeise, die seinen bedauernswerten Herren retten kann. Zuvor hat er es mit allem versucht, was der König je gemocht hat. Jede Stunde wurde eine andere wohlriechende Speise ins königliche Schlafgemach getragen, in der Hoffnung, der Duft könne den Lebensfaden des Kranken stärken. Ohne Erfolg. Im Gegenteil. Es scheint, als würden die Gerüche der köstlichen Speisen das Leiden des Königs steigern. Alle im Schloss sind verzweifelt. Die drei königlichen Hofärzte diskutieren, bis sie, einer nach dem anderen, vor Erschöpfung einschlafen. Sie haben getan, was sie tun können. Alles haben sie ausprobiert, was die ärztliche Wissenschaft für solche Fälle empfiehlt.

Die Königin leidet am meisten. Sie liebt ihren Gemahl. Sie kann sich nicht vorstellen ohne ihn zu leben. „Ich muss auf eine lange Reise, liebe Isolde," so hat er sich von ihr verabschiedet. „Sei nicht traurig, wir sehen uns wieder." Das waren seine letzten Worte. Das liegt mehr als eine Woche zurück. Seitdem hat der König die Augen nicht mehr geöffnet und nichts mehr von sich gegeben, außer Klagelaute. Die Königin ist heute so verzweifelt, dass sie ebenfalls keine Nahrung zu sich nehmen kann. Es ist ihr, als seien ihr der Hals und der Leib zugeschnürt mit einer ehernen Fessel. Es scheint, als habe auch sie den Lebenswillen verloren, als wolle sie mit ihrem Gatten sterben.

Die Fenster im Schlafgemach der Königin sind verdunkelt. Zusammengesunken, mit zuckenden Schultern, sitzt sie vor dem Spiegeltisch, den Kopf tief in die schlanken Hände vergraben. Sie schluchzt ohne Unterlass. Einmal blickt sie auf. Sie erschrickt. Im Spiegelglas sieht sie ein Gesicht. Es ist das Gesicht einer alten und müden Frau. Die Königin sinkt nach vorn. Sie schluchzt noch heftiger als zuvor.

Es klopft. Es klopft mehrmals. Die Königin vernimmt es nicht in ihrem Schmerz. Die Tür öffnet sich. Verlegen tritt er ein, Friethjof, der treue Diener. Verlegen steht er im Raum. Der brave Mann wagt sich nicht zu rühren, im Anblick der herzzerreißenden königlichen Trauer. Er leidet nicht minder. Es sind die dunkelsten Stunden in seinem schon weit fortgeschrittenen Leben. So lange er zurückdenken kann, sogar als Kind, hat er Freud und Leid mit der Königsfamilie geteilt. Schon sein Vater war Kammerdiener am Hof des Vaters von König Olaf. König Xaver war ein mächtiger, aber gerechter Landesherr. Er starb reich an Jahren, in wohlverdientem Frieden, im Einklang mit sich und der Welt, die er verließ. Umso mehr schmerzt es den alten Friethjof, König Olaf so leiden zu sehen.

Mit fünfunddreißig Jahren, im besten Mannesalter, ist es, besonders für einen Monarchen, viel zu früh die Bühne des Lebens zu verlassen. Vierundzwanzig war Olaf als er die Nachfolge des Vaters antrat, als er den Königsthron bestieg. Unwillig, das wussten alle am Hof. Olaf wollte nie König werden. Doch, nachdem sein Bruder bei einem Jagdgeschehen vom Pferd gestürzt und dabei ums Leben gekommen, war er es, an den Zepter und Krone übergingen.

König Olaf war eigentlich kein richtiger König. Jedenfalls wollte er keiner sein. Er wollte kein Schloss, keine Kutschen, keinen Hofstaat. Er wollte keine Diener und erst recht keine Leibeigenen. Er hatte nur einen Wunsch. Er wollte als Freund unter Freunden leben. Widerwillig beugte er sich der Notwendigkeit, dass jedes Land, sei es noch so klein, einen König braucht. In seiner ihm in die Wiege gelegten Art, Dinge die an ihn herangetragen werden ernst zu nehmen, betrachtete er sein Amt als eine ihm von einer höheren Ebene auferlegte Pflicht.

Er war es, der befand, dass Wissen und Bildung nicht länger Vorrechte der Reichen und Adligen sein dürfen. Er war es, der die Herolde aussandte, auch in die Nachbarländer, um Lehrer und Wissenschaftler anzuwerben. Er war es, der überall im Land Schulen und Bildungsstätten einrichtete. Und weil Olaf so ist wie er ist, trifft die Kunde von seinem Todeskampf wie eine Nachricht vom Weltuntergang in die Köpfe, in die Herzen aller, die ihn lieben und schätzen.

Friethjof, der treue alte Diener, steht noch immer reglos im verdunkelten Gemach der Königin. Er hat Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Der hagere Kopf mit dem weißen Haar ist auf die schmächtige Brust gesunken. Auf dem Parkett, zu seinen Füßen, glänzt ein feuchter Fleck. Unaufhaltsam quillt der Tränenstrom aus den geschlossenen Lidern, zieht in silbernen Fäden entlang des geöffneten Mundes. Dicke Tropfen bilden sich am knochigen Kinn, verlieren den Halt. Schwer atmend bemüht sich Friethjof Töne, die in seiner Brust toben, zu unterdrücken. Offenes Weinen, gar lautes Schluchzen in Anwesenheit eines Mitglieds der königlichen Familie steht ihm nicht zu. Die mageren Arme, verborgen im weißen Seidenstoff der Livree, baumeln hilflos nach unten.

Der Anblick der sich in Trauer verzehrenden geliebten Königin und dazu die Bemühungen den eigenen Schmerz zu verbergen übersteigen die Kräfte des betagten Mannes. Er spürt, wie er sanft zu Boden gleitet. Es folgt ein hartes, lautes Geräusch, kein Schmerz, ein dumpfer Aufprall, so, als würde eine schwere Eichentür von Sturmeshand ins Schloss geschlagen. Es ist ihm, als sei er diese Tür, als sei sein Körper das schwingende Holz.

Die Königin hat einen Traum. In diesem Traum sieht sie sich Hand in Hand mit dem geliebten Gemahl beim Ersteigen eines Berges. Ohne Hofstaat. Nur sie beide. Olafs Hand liegt leicht in der ihren. Ihre Körper fliegen den Hang hinauf wie der Wind, so frei und unbeschwert. Isolde spürt keinen Boden unter den Füßen, erkennt erstaunt, dass sie keine Schuhe trägt. Wieso? Wieso fühlt sie die Erde nicht, nicht das Gras, das Geflecht? Wieso knicken die Halme nicht, nicht die bunten Blumen? Sie bemerkt, dass auch der geliebte Olaf an ihrer Seite ohne Schuhe ist. Er trägt ein langes weißes Gewand. Die schlanken Füße schreiten weit voran. Isolde hat Mühe ihm zu folgen. Sein Kopf ist hoch aufgerichtet. Die blonden Haare fliegen im Wind. Die Augen haften an einem Ziel in der Ferne. Er scheint ihr plötzlich fremd und weit weg.

So, als wenn Olaf den Zweifel spürt, wendet er sich ihr zu. Ein feines Lächeln spielt um den geliebten Mund. Vertraute Züge hüllen sie ein. Worte dringen an ihr Ohr. Sie sind bedeutungsvoll. Das spürt sie. Jedoch, es ist, als würde sich Olaf einer fremden Sprache bedienen. Sie versteht kein einziges Wort. Seine Hand löst sich aus der ihren. Erregt deutet er auf eine weiße Mauer. Darin ist ein dunkles Tor. Olaf läuft voran, direkt darauf zu. Das Tor öffnet sich.

Bevor Isolde dem Gemahl folgen kann, schließt sich der mächtige Türflügel mit einem trockenen, dumpfen Hall. Ihre Fäuste trommeln gegen das Holz. Ihre Hände verkrallen sich darin, färben sich von den Fingerspitzen her rot. Die dunklen Eichenbalken lösen sich auf, verwandeln sich in das Bild einer flimmernden, spiegelnden Wasserquelle. Eine Grauensgestalt steigt daraus empor. Gebrochene pupillenlose Augen starren aus blassen Schädelhöhlen. Ein lippenloser Mund öffnet sich. Weiße Knochenhände erheben sich. Ein greller Schrei löst sich. Fäuste schlagen, schlagen ... Klirrend zerbricht das Bild in unzählige Teile.

Warm empfindet Isolde den Fluss des roten Safts an ihren Armen. Sie sieht die bebenden, noch immer in Glasscherben verkrallten Hände. Ihre Hände. Sie sieht den Strom des Blutes im Gewirr des zersplitterten Spiegelglases. Ihr Blut. Sie will um Hilfe schreien, will ... Im Niedergleiten fühlt sie einen Körper. Zerfetzte Hände gleiten darüber hinweg. Über kalte Lippen gleitet der letzte Atemhauch eines jungen Lebens.

- - -

Es ist Sonntag. Der König stirbt. Der König stirbt. Die Worte ziehen wie eine Seuche durch das Land. Vier Wochen sind vergangen seit dem Ableben der Königin, seit dem Ableben des treuen Dieners. Die Nachricht von deren plötzlichem Tod macht den gottesfürchtigen Bürgern Neukastaniens die Vergänglichkeit des menschlichen Seins in beängstigender Weise deutlich. Sie beten, der großen über den weltlichen Dingen stehenden Macht Ehrfurcht und Respekt gebietend, in allen Stuben.

König Olaf ringt noch immer mit dem Tod. Nicht mehr so heftig wie vor Wochen. Es scheint nun ein stiller, nicht mehr körperlich geführter Kampf. „Ein Kampf auf einer höheren Ebene,“ so hat es der Pfarrer, mit zum Himmel gerichtetem Blick, von der Kanzel verkündet. Darunter können sich die braven Leute zwar nichts vorstellen, es zeigt ihnen aber, wie unwissend sie in diesen Dingen sind. Ein Grund dafür, noch emsiger zu beten, in Kirchen und Kapellen Kerzen zu entzünden.

Wachs ist seit Wochen Mangelware im Land. Fahrende Händler nutzen die Situation. Sie kommen von überall her, auch aus den Nachbarländern, bieten Kerzen und Rosenkränze an, Gebetbücher, Heiligenbilder, Bibeln, Kruzifixe, Bildnisse des Königs in vielerlei Form, aber, zur Freude der Kinder, auch allerlei Tand und Süßigkeiten.

Auf dem Jahrmarkt der Trauer gibt es ein Puppentheater. „Der König stirbt,“ so heißt das Stück. Hauptdarsteller ist, wie kann es anders sein, König Olaf. Er wälzt sich, umgeben von seinen Treuen, zu jeder vollen Stunde stöhnend auf seinem goldenen Bett. Auch die Königin ist zu sehen, in ihrem Schlafgemach. Zusammengesunken, mit zuckenden Schultern, sitzt sie vor dem Spiegelschrank. Der alte Friethjof steht mit schlotternden Beinen hinter ihr. Bei der Sterbeszene der Königin schluchzen die mitfühlenden Theaterbesucher so laut, dass man es zwei Dörfer weit hört.

Einer sitzt ohne sichtbare Empfindung da, bleich und reglos, nicht wie ein Junge seines Alters. Es ist Alwin. Er sieht das Stück heute zum wiederholten Male. Er erhebt sich als erster, geht mit großen Schritten, mit in die Ferne gerichtetem Blick, vorbei an den Verkaufsständen, vorbei an Artisten und Gauklern. Er nimmt wenig wahr von dem, was ihn umgibt. Einmal nur bleibt er stehen. Eine lärmende Kinderschar drängt sich um einen Spielorgelmann. Auf dem tönenden Holzkasten steht, in einen roten, gold verzierten Mantel gehüllt, ein struppiger Affe. Auf dem Kopf trägt er eine Krone. Immer wenn im Hut des Musikanten eine Münze hell aufklingt wirft das Tier die dünnen Arme und Beine in die Luft, purzelt um sich selbst. Die Kinder haben ihre Freude daran, versuchen es ihm gleich zu tun.

Alwin kann dem nichts Lustiges abgewinnen. Ein dichter Nebel steht zwischen ihm und der Welt. Er sieht die Szene aus dem Puppentheater vor sich, in der sich der kranke König stöhnend hin und her wälzt, auf seinem goldenen Bett. „Ach,“ dringt es aus dem Mund des Knaben, „wenn ich ihm doch beistehen könnte, in seinem Todeskampf, alles würde ich dafür geben. Alles.“

Es war im Sommer vorigen Jahres, da hatte er den König mit eigenen Augen gesehen, als er von der Schule nach Hause ging. In den Graben am Wegrand war er gesprungen, als er das Hufgetrappel und Surren der Räder hinter sich vernahm. Ein lauter Peitschenknall machte ihm deutlich wie klein und unbedeutend er im Gegensatz zur königlichen Hoheit war. Tief verbeugte er sich, als die goldene Kutsche mit den sechs geschmückten, weißen Pferden an ihm vorüberzog.

Es war nur ein sehr kurzer Moment, in dem sich ihre Blicke trafen. Doch sie trafen sich. Ernst und nachdenklich wirkte der König. Dann aber trat in seine Augen ein feiner Glanz. Er nickte freundlich. Ein Lächeln folgte, ein gütiges, liebevolles Lächeln. Tief traf es Alwin ins Herz. Unbeweglich stand er im von Hufen und Rädern aufgewirbelten Staub, die Mütze vor die Brust gepresst. Seine Augen folgten dem glänzenden Gefährt, bis es sich, winzig geworden, in der flimmernden Weite des Sommernachmittags verlor. Seitdem begleitet ihn das Bild des lächelnden Königs, sogar in der Nacht. Sehr aufgeregt war er nach Hause gekommen, an jenem Sommertag. Am ganzen Körper bebend hatte er der Mutter von der Begegnung mit dem König erzählt und von dem Lächeln, das ihm galt, ihm ganz allein. Wohltuend empfand er an diesem Abend die vertrauten Hände in seinem Haar, die warmen Lippen auf seiner Stirn.

Wie ein Schatten seiner selbst war er nach oben in seine Stube gestiegen. Keinen Appetit verspürte er auf das, was die Mutter ihm still auf die Kommode stellte. Am kleinen Fenster saß er, schaute hinunter ins Tal, dorthin, wo ihm der König begegnet war. Und als der Vollmond die Nacht beherrschte verbeugte sich Alwin tief in seiner Stube. Immer wieder. Immer wieder. Es war ihm als sei es seine Majestät, die dort oben vom Himmel herablächelte. Als wollte der König den Bürgern Neukastaniens zeigen, dass er auch noch in der Nacht schützend seine Hand über sie hält. Am Morgen fand ihn die Mutter zusammengekauert schlafend am Fenster. Sie brachte ihn zu Bett, deckte ihn zu, lächelte. Und wie sie lächelte ... Wie der König.

Der Sonntag neigt sich dem Ende. Der Lärm vom Jahrmarkt der Trauer um den kranken König Olaf klingt aus. Alwin sitzt am Fenster seiner Stube, schaut hinunter ins dunkle Tal. Er wartet auf den Mond. Es ist eine sternenlose Nacht. Der Mond bleibt aus. Alwin presst die Stirn an das kalte Fensterglas. „Ach,“ dringt es aus ihm. „Ach, könnte ich dem armen König doch nur helfen. Alles würde ich dafür geben. Alles. Sogar ..., sogar ..., ja sogar ein Bein, einen Arm. Alles. Alles was der liebe Gott will.“

Dumpf knarren die Dielen. Auf einem Bein, einen Arm hinter dem Rücken, so steht Alwin vor seiner Schlafstelle. Mit einem Seufzer fällt er zwischen die Kissen. Er fühlt sich nicht wohl in seinem weichen Bett. Er denkt an den armen König. Seine Augen ruhen dort wo sie jeden Abend beim Nachtgebet ruhen, auf dem Kruzifix über dem Türrahmen. Heute scheint ihm der Gekreuzigte nicht so leidend wie sonst. Auch scheint die Dornenkrone einer wirklichen Krone Platz gemacht zu haben. Und ... er lächelt, der König.

- - -

Es ist Sonntag. Im Schloss herrscht Stille. Es ist die Stille die seit Wochen durch alle Räume, durch alle Gänge, über alle Treppen kriecht. König Olaf liegt reglos auf seinem Bett, das, was von ihm übrig geblieben ist. Die Hände des königlichen Mundschenks träufeln nahrhafte Suppe in den leblosen Mund.

Jeden Morgen bei Sonnenaufgang horchen die königlichen Hofärzte am königlichen Leib. Jeden Morgen rufen sie: „Der König lebt! Der König lebt!“ In den Ohren der Bediensteten klingt das jedoch wie: „Der König ist tot. Der König ist tot.“ Für die meisten von ihnen ist es nicht mehr der Landesvater, der auf dem königlichen Bett liegt. Für die meisten von ihnen ist es nur noch seine Hülle, nutzlos, ohne Geist, ohne Sinn. Sie versehen ihren Dienst zwar noch immer mit würdevollen Gesten und mit Respekt vor der Krone, jedoch glaubt niemand im Schloss ernsthaft daran, dass König Olaf jemals wieder erwachen wird. Man richtet sich darauf ein, dass der jetzige Zustand noch Monate, vielleicht sogar Jahre anhält. Die königlichen Hofärzte stecken zwar noch täglich die Köpfe zusammen, murmeln lateinische Sprüche, doch allen im Schloss ist klar, dass sie damit ihre Pflicht erfüllen. Nicht mehr, nicht weniger.

Es gibt einige unter den Hofangestellten die darüber nachdenken wie sie sich auf unauffällige Weise bereichern können, an wertvollem Silber, an Porzellan, an Bildern, an Schmuck. König Olaf hat keinen Nachfolger. Die Ehe mit Isolde ist zum Leidwesen aller kinderlos. Wem sollen die wertvollen Dinge nützen, wenn nicht den Hofbediensteten? Neukastanien wird ohne König auskommen müssen und ohne Schloss.

Die königlichen Gemächer wären längst geplündert, die Bücher der königlichen Bibliothek in alle Winde verstreut, hätte es nicht den treuen Oberhofmarschall Godewick gegeben. In einem großen Raum hat er alle wertigen Gegenstände zusammengetragen. Den Schlüssel bewahrt er in der Westentasche seiner Uniform. Oberhofmarschall Godewick fühlt sich in diesen Tagen als ranghöchster Hofbediensteter dem Königshaus in besonderer Weise verpflichtet. Schließlich war sein Vater schon Hofmarschall im Dienst von König Xaver, der Vater seines Vaters sogar Ober-Oberhofmarschall am Hof des Vaters von König Xaver. Damals gab es die Position Ober-Oberhofmarschall noch.

König Olaf, der nicht viel Wert auf Ämter legt, hat das Ober-Ober bei allen Positionen abgeschafft. Sehr zum Leidwesen des guten Godewick. Seitdem träumt dieser beinahe jede Nacht vom zweiten goldenen Hofmarschallorden mit Eichenlaub und von der zweiten goldenen Hofmarschallscherbe an seiner Ausgehuniform. Doch, und daran erkennt man das gute Gemüt des Oberhofmarschalls Godewick, er trägt die Einschränkung seines beruflichen Erfolgsweges König Olaf nicht nach. Im Gegenteil. Er ist es, der dem Bedauernswerten in den Abendstunden Gesellschaft leistet. Dann ist er kein hochrangiger Hofangestellter. Dann ist Olaf kein König. Dann ist es ein Freund der am Bett eines Freundes sitzt. Manchmal entzündet er eine Kerze an der Seite des Reglosen, setzt sich mit einem Buch in der Hand zu ihm hin. Es ist die Bibel. Dass der König an einer anderen Art Literatur Interesse haben könne kommt dem guten Godewick nicht in den Sinn.

So ist es auch heute. Im flackernden Kerzenschein rückt der Oberhofmarschall seine Nickelbrille zurecht, räuspert sich, als hätte er einen mit Zuhörern gefüllten Saal vor sich. Würdevoll halten seine starken Hände das große Buch. Er ist noch beim ersten Teil, bei der Erschaffung der Welt. Mächtig hallt seine im Befehlston geschulte Stimme im Schlafgemach. Er liest lauter als üblich. Er glaubt, König Olaf sei ihm dankbar dafür. Schließlich ist der Geist des Bedauernswerten, wie alle im Schloss wissen, weit weit weg. Godewick kommt an die Stelle an der Gott spricht: Es sollen Lichter werden am Firmament des Himmels ...

Godewick durchfährt es wie ein Blitz. Ein Windhauch hat die Kerze beinahe zum Verlöschen gebracht. Ein gehauchtes „oh" zieht durch den Raum. Erschrocken reißt sich Godewick die Brille von den Augen, schaut zum König, springt auf. Die Kerzenflamme verlischt. „Das war ... Das war ... Majestät, Majestät ..." stammelt er in die Finsternis, tastet aufgeregt nach den Zündhölzern. „Das war ... Das war doch ein Lächeln. Majestät ..." Das Zündholzlicht zittert. Seine Hand zittert. Nein, er hat sich wohl getäuscht. Der König liegt da, wie immer. Ernsthaft, mit erschlafften Lippen, wie ein Mensch der nach innen horcht. „Au." Die tanzende Flamme hat die Fingerspitzen erreicht.

Dem Oberhofmarschall ist der Wunsch dem kranken König Gesellschaft zu leisten für heute vergangen. Auf Zehenspitzen eilt er durch den dunklen Raum. Aufs Äußerste erregt, schwer atmend, drückt er die Eichentür hinter sich ins Schloss, greift nach dem Leuchter. Mit großen Schritten eilt er durch den langen Flur. Sein Schatten folgt ihm, springt im flackernden Kerzenschein wie ein Geist von Tür zu Tür. Godewick steht still, hält den Atem an. Unbändiges Kläffen dringt an sein Ohr. Die königliche Hundeschar scheint die Nacht zum Tag verkehren zu wollen. Durch die großen Fenster greifen fahle Lichtbündel wie Finger einer Knochenhand nach ihm. Ein greller Blitz, begleitet von mächtigem Donnerhall, zerreißt die Dunkelheit.

Die Wände scheinen zu wanken, der Boden sich seinen Füßen zu widersetzen. Alles im Schloss scheint ohne Halt. Weiße Büsten auf schwankenden Säulen tanzen vor ihm, versperren den Weg. Die schweren goldenen Rahmen der Ahnengalerie schaukeln. Totenschädel feixen von den Schultern beleibter Monarchen. Jagdhunde zerren an den Leinen, lösen sich geduckt, bedrohlich knurrend von der Leinwand, verwandeln sich in Zähne fletschende Bestien.

Mit weichen Knien, dem Zusammenbruch nahe, erreicht Godewick die breite Marmortreppe. An das kalte Geländer gepresst, den Kerzenleuchter weit voraus gestreckt, tastet er sich Stufe für Stufe nach unten. Er hastet durch den Seitenflügel des Schlosses, murmelt Worte, schimpft, ist wütend auf sich selbst, auf seine Phantasie, die ihm solche Streiche spielt. „Natürlich hat der König nicht gelächelt. Das war doch ... Das war doch nur ... Das war ..." Hart fällt die Tür seiner Dienstwohnung hinter ihm ins Schloss. Mit geschlossenen Augen lehnt er an dem dunklen Holz. Sein Entschluss steht fest. Morgen wird er noch einmal die gleiche Stelle aus der Bibel vorlesen, dabei aber die Kerze dicht an das Gesicht des Königs halten.

Es ist kurz vor Mitternacht. Zwei Schlossmäuse tanzen im Gang vor den königlichen Gemächern, spielen Nachlauf mit ihren Schatten. Es ist die beste Zeit für Schlossmäuse, eine Zeit in der sie sich so richtig austoben können. Nicht in dieser Nacht. Erschrocken fahren die beiden auseinander. Das Geräusch tapsender Schritte, fliegender Atem und lautes Herzpochen klingen bedrohlich für sensible Mäuseohren. Eng aneinander gepresst blinzeln sie ängstlich und neugierig zugleich aus ihrem Versteck. Was sie sehen ist für Mäuse, besonders für jene die hier zu Hause sind, sehr ungewöhnlich.

Es ist Alwin. Er hat sich während der Teezeit, unbemerkt ins Schloss geschlichen. Unter der großen Treppe in der Halle verborgen hat er lange warten müssen, bis er sicher sein konnte, dass alle schliefen. Der große Mann in der prächtigen Uniform, der mit einem Kerzenleuchter in der Hand, begleitet von Blitz und Donner, bleich wie ein Geist aus dem oberen Stockwerk gekommen war, hat ihm einen argen Schrecken bereitet.

Alwin huscht auf Zehenspitzen von Tür zu Tür, steht mehrmals still, horcht. Kein Laut lässt ihn auch nur ahnen, was hinter den mächtigen Flügeln verborgen ist. Nun steht er mit offenem Mund vor dem königlichen Schlafgemach. Durch ein hohes Fenster fällt gebündeltes Mondlicht auf das königliche Wappen. Es ist die fünfzackige Krone mit dem spiralförmig gewundenen Horn. Alwin presst sein Ohr gegen die Tür. Seine aufs Äußerste angespannten Sinne versuchen das dicke Holz zu durchdringen. Seine Hand liegt auf dem goldenen Türgriff. Der senkt sich. Der schwere Flügel knarrt in den Angeln. Alwin hält den Atem an.

Etwas in ihm macht sich selbständig, löst sich von seiner Angst. Vorsichtig steckt er den Kopf in den Türspalt. Finsternis umfängt ihn, noch finsterer als auf dem Flur. Deutlich vernimmt er das rhythmische Atmen eines schlafenden Menschen. Alwins schlanker Körper schiebt sich in den Raum. Behutsam drücken die kleinen Hände den mächtigen Flügel ins Schloss. Benommen steht er da. Das pochende Blut in den Schläfen übertönt das Geräusch des Schlafenden.

Es dauert lange bis Alwins Erregung soweit abgeklungen ist, dass er ausmachen kann, aus welcher Richtung das Atmen kommt. Tastend, die Arme weit nach vorn gestreckt, bewegt er sich darauf zu, zählt still die Schritte. Das Atemgeräusch wird lauter, klarer. Die Fingerspitzen seiner rechten Hand berühren ein Möbelstück. Ein Tisch, hartes königliches Eichenholz registriert er mit ehrfürchtigem Schauer. Tastend folgt er der Tischkante. Die Knie stoßen an ein Hindernis, die Hände finden Halt an einer hohen verzierten Stuhllehne. Vorsichtig schiebt er sich auf die große Sitzfläche. Unbeweglich verharrt er, horcht. Wie er sich auch anstrengt, sehen kann er noch immer nichts. Das Atemgeräusch scheint nun so nah als läge der König unmittelbar neben ihm.

Alwins Hände tasten vorsichtig nach dem was sich länglich abformt in seiner Hosentasche. Es ist eine geweihte Kerze. Die, so hat er es sich vorgenommen, wird er für den armen Kranken an seinem Bett entzünden und beten, dabei den lieben Gott bitten, den König, der so gütig lächeln kann, aus seinem tiefen Schlaf erwachen zu lassen. Vorsichtig stellt er das Wachsgebilde auf den Rand des Tisches, wischt mit dem Handrücken den Schweiß von den Augenlidern. Zitternd zieht er eine kleine Schachtel hervor. Zitternd entnimmt er ihr ein Zündholz. Sein Herz pocht so laut, dass er glaubt, König Olaf müsse davon erwachen. Das Zündholzlicht flammt auf. Die Hand zittert so arg, dass er Mühe hat, den Docht der Kerze zu erreichen.

Alwin fährt es heiß durch die Glieder. Hat da jemand gestöhnt? Schnell pustet er die Flamme aus. Unbeweglich sitzt er da, wagt nicht in die Richtung des Schlafenden zu schauen. Es ist ihm, als müsste jeden Augenblick die Tür auffliegen, als müssten Soldaten hereinstürmen und ihn ergreifen. Es geschieht aber nichts. Das Atemgeräusch dicht neben ihm ist ruhig und gleichmäßig.

Erneut flackert ein Zündholzlicht auf. Es findet den Weg zur Kerze. Alwin sitzt erstarrt im Wirkungskreis des Lichts, fühlt sich entblößt, entdeckt, unbekannten Mächten ausgeliefert. Das Bild der tanzenden Flamme brennt sich ein, in sein Innerstes, blockiert sein Denken und Handeln. Alwin sitzt lange unbeweglich da, atmet verhalten im Rhythmus des Schlafenden. Dann siegt die Neugierde des Knaben. Langsam, ganz langsam dreht er den Kopf zur Seite. Sein Blick gleitet über eine von weißen Tüchern verhüllte Gestalt. Er sieht einen Körper, aber nicht den König. Er sieht einen Menschen, ruhig atmend auf dem Rücken liegen, den Kopf mit den fahlen Zügen weit nach hinten ins Kissen gebeugt, Augen und Mund fest geschlossen.

Das ist ein Kranker. Ja. Aber wo ist der König? Das Kopfteil des Bettes zeigt das königliche Wappen, die fünfzackige Krone mit dem gewundenen Horn, das gleiche wie auf der Tür, das gleiche wie auf der Kutsche. Der, der hier vor ihm liegt, hat aber keine Ähnlichkeit mit dem König, den er kennengelernt hat. Nichts Würdiges strahlt er aus, nichts Gütiges. Doch es ist das königliche Gemach, es ist das königliche Bett.

(...)

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